Brauchen wir alle Sprachen der Welt? Ein Plädoyer für die Vielfalt

Titelbild Sprachen der Welt

Von Birgit Constant

Im Zuge der Globalisierung unserer Lebenswelt sind wir es gewohnt, Informationen in einer uns verständlichen Sprache verfügbar zu haben, egal ob es Nachrichten, Filme oder Bücher sind. Auch historische Romane lesen wir ganz selbstverständlich in einer einzigen Sprache.

Der Komplexität der tatsächlichen damaligen Sprachenwelt entspricht das oft wenig, auch wenn Lesende und Schreibende gewiss dankbar für eine solche Vereinfachung sind. Als polyglotte Sprachwissenschaftlerin und Romanautorin bedauere ich das, denn meines Erachtens bereichert sprachliche Vielfalt sowohl uns selbst als auch die Romanwelten. Deshalb halte ich fest daran, dass wir alle Sprachen der Welt brauchen.

Sprachwelten in mittelalterlichen England

Natürlich sollte die historische Realität dem Lesegenuss nicht im Wege stehen, aber das Einbinden der sprachlichen Situation führt nicht nur für Lesende zu Herausforderungen, an denen sie wachsen können. So schlagen sich die jugendlichen Protagonisten meiner Northumbria-Trilogie zur Zeit der normannischen Eroberung Englands nicht nur mit dem Erwachsenwerden herum, sondern auch mit den Zwängen einer nicht nur sprachlich fremdbeeinflussten Gesellschaft.

Cover: Der zweite Sohn des Normannen

Das Beispiel Englands im Mittelalter und gerade die Umwälzung, welche die Normannen auslösten, zeigen, wie komplex der sprachliche Hintergrund eines historischen Romans sein kann. Warum das wichtig ist? Weil sich hier nicht nur zwei Heere gegenüberstehen, sondern zwei völlig verschiedene Kulturen, die sich darüber hinaus nicht einmal verständigen konnten – abgesehen von den Klerikern, die sich schon immer über Latein als lingua franca ausgetauscht haben.

Gerade in England ist die normannische Eroberung nur das große Finale einer langen Reihe von sprachlichen Konflikten und Missverständnissen, die das Land in der Zeit zwischen dem 5. und 14. Jahrhundert durchmachte.

5. bis 8. Jahrhundert: Angelsachsen

Nach dem Abzug der Römer im Jahre 410 n. Chr. ließen sich schon bald die germanischen Stämme der Angeln, Sachsen und Jüten in Britannien nieder und vertrieben die ursprünglich keltische Bevölkerung nach Norden und Westen. Die Kommunikation zwischen Einheimischen und Eindringlingen war derart flüchtig, dass außer Orts- und Flussnamen vom Inselkeltischen praktisch nichts im Englischen geblieben ist. Dafür entwickelte sich in den Gebieten der Vertriebenen deren Sprache weiter in die heute noch lebenden Nachfahren Walisisch, Kornisch und Bretonisch.

8. bis 11. Jahrhundert: Wikinger

Etwas besser funktionierte die Verständigung, wenn auch nach einem sehr holprigen Start und danach gezwungenermaßen, mit den Wikingern, die mit Altnordisch zumindest eine Sprache gleichen germanischen Ursprungs wie die Angelsachsen besaßen.

Was im 9. Jahrhundert mit Verwüstungen und Plündereien begann, endete schließlich vor allem im englischen Nordosten mit einem zunehmend friedlichen Zusammenleben, als die Wikinger nach und nach in England sesshaft wurden. Viele Wörter für Ortsnamen, wie etwa York, und landschaftliche Gegebenheiten, aber auch Alltagswörter wie husband, cake und window haben sich im Englischen aus dem Altnordischen erhalten.

11. bis 14. Jahrhundert: Normannen

Radikaler war der Effekt im 11. Jahrhundert, denn mit der Schlacht bei Hastings wurde die heimische angelsächsisch-dänische Oberschicht ausradiert und durch Adlige ersetzt, die zum Großteil eine romanische und damit völlig unverständliche Sprache sprachen. Linguistisch gesehen galt ab jetzt: Englisch fürs Volk, Normannisch für die Herrscher. Das bekommt auch Oswulf, der Protagonist aus meinem Roman Der Krieger des Königs am eigenen Leib zu spüren.

Mehr denn je spielten gerade in den Anfangsjahren der normannischen Herrschaft Übersetzer eine wichtige Rolle, um zwischen normannischem Adel und englischen Untergebenen zu vermitteln, seien es Kleriker, die sich auf Lateinisch verständigten, zweisprachige Angehörige früher Mischehen, die über den Ärmelkanal zwischen England und der Normandie geschlossen worden waren, oder andere mehrsprachige Dolmetscher.

Cover: Der Gesang des Gauklers

Im Gegensatz zur damaligen Bevölkerung werden viele, die heute Englisch lernen, Herzog Wilhelm und seinen Nachfahren auf Knien danken. Denn mit ihnen dominierten nun Normannisch/Französisch und Latein die Schriftkultur und die Höfe, während Altenglisch in die reine Mündlichkeit des niederen Volkes verdrängt wurde. Das Ergebnis: Die zahlreichen Endungen an Verben, Adjektiven und Nomina je nach Numerus, Kasus und Genus – ähnlich wie im heutigen Deutsch –, verschwanden auf dem Weg ins Mittelenglische.

Doch was an Endungen wegfiel, kam an Vokabular dazu, insbesondere in den Bereichen, in denen die Normannen mit ihrer Sprache herrschten, also Militär und Kriegswesen, Titel und Ämter, Verwaltung, Recht, Essen, usw. – ein Wandel, der sich mit der Rückkehr des Englischen in die Schriftlichkeit ab dem 13. Jahrhundert deutlich zeigt. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts setzt sich Englisch, deutlich französisiert aber siegreich, auch als Sprache von König und Parlament wieder durch.

Jeder versteht jeden im Roman

Allein diese oberflächliche Beschreibung der sprachlichen Situation im mittelalterlichen England macht deutlich, wie groß das Zugeständnis an Lesende ist, wenn in Mittelalter-Romanen alle Figuren problemlos über Stände und Orte hinweg miteinander plaudern. Es simplifiziert die historische Realität beispielsweise im dänisch besetzten Norden im 9. und 10. Jahrhundert, an den Höfen normannischer Fürsten insbesondere im 11. und 12. Jahrhundert oder in entlegenen Gebieten, in die etwa Gesandte des Königs für Befragungen kommen. Im historischen Roman versteht jeder jeden, egal welche Sprachen der Welt damals an den Schauplätzen vorherrschten.

Sprachen der Welt heute

Aber es geht uns heutzutage nicht anders als den Figuren in Romanen. Die ganze Welt spricht Englisch, alle anderen Sprachen, deren Geschichte, Herkunft und Kultur müssen/ wollen zurückstecken, damit eine Sprache alle beherrscht.

Zu meiner großen Erleichterung sieht auch für uns die Realität anders aus, als die Medien es uns vorgaukeln. Selbst für Nachrichten ins All reicht interessanterweise Englisch nicht aus, und auch KI-Systeme protzen noch damit, wie viele Sprachen sie sprechen.

Es wird also wohl noch dauern, bis wir wie die Romancharaktere alle in einer Sprache sprechen, und als Sprachwissenschaftlerin finde ich das gut so. Ein wenig versuche ich daher diese historische Realität in meinen Romanen nicht nur für meine Figuren, sondern auch für Lesende durch authentische Sprachfetzen einzufangen und die sprachliche Vielfalt zu bewahren.

Fazit

Alle Sprachen der Welt sind mehr als nur eine Abfolge von Wörtern oder Lauten. Hinter jeder Sprache steckt eine eigene Kultur mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Denkweisen, Konzepten, Werten und Geschichten. Wenn eine Sprache stirbt, stirbt auch ein Teil dieser Welt, in der wir leben, und gerade bei Sprachen, die nie in irgendeiner Form für die Nachwelt festgehalten wurden, ist dieser Verlust endgültig.

Die Welt braucht mehr Verständnis und Akzeptanz, nicht Ignoranz und Gleichmacherei, und dazu gehört für mich auch die Bewahrung der eigenen Identität, inklusive der eigenen Sprache, sogar für meine Romanfiguren.

Die Northumbria-Reihe von Birgit Constant

Selbstverständlich verlangt das mehr Arbeit, nicht nur für mich, sondern auch für jene, die meine Romane lesen. Aber wer sich gerne mit fremden Menschen und Ländern beschäftigt, wird auch Spaß an den Sprachfetzen meiner Protagonisten haben.

Als Philologin faszinieren mich alle Sprachen der Welt und was wir daraus über andere lernen können. Warum sollte man irgendwo hinreisen, wenn alle dieselbe Sprache sprechen, dasselbe essen und dieselben Ansichten und dieselbe Kultur haben, außer vielleicht der andersartigen Landschaft wegen? Niemand würde einem mehr etwas darüber erzählen können, was diese Landschaft und die Menschen, die sie bevölkern, ausmacht. Wir alle brauchen daher Sprachen der Welt. Und wir brauchen alle Sprachen der Welt. Oder nicht?

Autorin mit einem Interesse für dieSprachen der Welt: Dr. Birgit Constant

Über die Autorin

Birgit Constant schreibt historische Romane für Sprachbegeisterte.

Die promovierte Mediävistin hat elf Sprachen gelernt und arbeitete lange international in Übersetzung, IT und PR, bevor sie in der Buchwelt landete. In ihren Büchern kombiniert sie wenig bekannte Schauplätze und Figuren, ungewohnte Perspektiven auf bedeutende Ereignisse und Persönlichkeiten und eine kräftige Prise alte Sprachen.

Mit ihrer Familie lebt sie in der Stadt mit dem größten Mittelalterfest Europas und dem höchsten Backsteinturm der Welt. Interessierte können sich auf Birgit Constants Website www.birgitconstant.de für exklusives Lesematerial sowie ein Bonus-E-Book zu ihrem monatlichen Newsletter Post Scriptum anmelden.

Birgit Constant ist Gründungsmitglied der Sisters through Time, ein Zusammenschluss von Autorinnen historischer Romane.

Bücher

Buchreihe Die Northumbria-Trilogie (Der Krieger des Königs, Der zweite Sohn des Normannen, Der Gesang des Gauklers und die Vorgeschichte Der Weg des Schwertes), Coming-of-Age-Romane, die im Nordengland des 11. Jahrhunderts spielen

Marie ist mein Name, Romanbiographie über die erste französischsprachige Schriftstellerin (Frankreich, 12. Jahrhundert)

Der Werwolf von Machecoul, Horrorkurzgeschichte (Frankreich, 15. Jahrhundert)

Alle Bücher sind im Buchhandel und direkt bei der Autorin erhältlich.


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